Siegfried Mildenberg wurde 1888 in Lengerich geboren. Sein Vater war Viehhändler und Metzger. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Siegfried als Soldat eingezogen und kehrte im Dezember 1918 nach Hause zurück. Knapp zwei Jahre später heiratete er Henriette Jacobs aus Lathen (Emsland). Zunächst blieben sie in Lengerich. Dort wurde im Dezember 1921 ihr Sohn Hans geboren.
Im Mai 1928 zog Siegfried mit Frau und Kind nach Telgte. Sie fanden eine Unterkunft in der Bahnhofstr. 14 bei Hermann Auerbach. Der gab Siegfried auch Arbeit als Viehhändler in seinem Betrieb. Mehrere Male wechselte die kleine Familie ihre Wohnung in Telgte.
Fotos zeigen, dass es eine Zeit des friedlichen Zusammenlebens in Telgte gegeben hat: Vater Siegfried im Männergesangverein und auf der Telgter Rennbahn, Sohn Hans in der Schulklasse am Baßfeld und in der Freizeit, zusammen mit jüdischen und nichtjüdischen Kindern.
Seit Beginn des NS-Regimes 1933 wurde es für Hermann Auerbach, Siegfrieds Arbeitgeber, immer schwerer, seinen Betrieb aufrechtzuerhalten. Durch fortlaufend einschränkende und diskriminierende Erlasse und Verordnungen war das Geschäft sehr zurückgegangen. Aber er versuchte, seine drei Angestellten, darunter Siegfried Mildenberg, weiter zu beschäftigen.
Pflegekind Karl-Heinz Steinhardt
Trotz der sehr bescheidenen Verhältnisse, in denen die Mildenbergs lebten, nahmen sie den vierjährigen Karl-Heinz Steinhardt bei sich als Pflegekind auf. Von dem kleinen Jungen gibt es kein Bild, nur wenig ist von ihm bekannt: Er wurde am 11. Juli 1934 in Bremen geboren. Seine jüdische Mutter, Ida Steinhardt, war Krankenschwester, sein Vater unbekannt. Er hatte zwei Schwestern: Rita und Marianne.
Am 1. Juni 1938 brachte die Mutter den knapp Vierjährigen zu einer älteren Bekannten, bei der bereits die Schwestern lebten. Grund war ihr am 5. Juni ablaufender Fremdenpass. Die Mutter tauchte unter. Vier Jahre später, am 28. Mai 1942, meldete das KZ Ravensbrück ihren Tod. Die ältere Bekannte sah sich nicht imstande, drei Kinder auf Dauer aufzunehmen. Sie vertraute Karl-Heinz fremden Juden in der Hoffnung an, dass sie ausreisen und ihn ins Ausland mitnehmen würden. Und so kam das Kind im September 1938 zu den Mildenbergs nach Telgte.
Reichspogromnacht
Aber auch hier, in ihrer letzten Wohnung in der Königstraße 43 – über der Telgter Synagoge – konnte die Familie nicht heimisch werden: Am 10. November 1938 wurden Synagoge und Wohnung vollständig demoliert und niedergebrannt. Die Familie erlebte brutale Gewalt vom Ortsgruppenleiter und von SA-Männern aus Münster. Nachmittags standen Schulkinder auf der Straße, warfen die Fensterscheiben ein und beteiligten sich an der Zerstörung des Hauses. Fünf Jahre Hetze und Propaganda gegen die Juden zeigten hier ihre Wirkung.
Die Familie flüchtete zu Hermann Auerbach in die Bahnhofstraße und ließ sich in der Öffentlichkeit kaum noch sehen. Siegfried beantragte im Dezember 1938 eine Ausreisegenehmigung. Er wollte mit Frau und Pflegekind nach Kuba oder Palästina auszuwandern. Auch für Sohn Hans wurde ein Ausreiseantrag nach Palästina gestellt. In beiden Fällen wurde die Genehmigung erteilt. Der 17-jährige Hans wanderte tatsächlich laut Aktenvermerk am 30. 1. 1939 aus.
Heimatlosigkeit und Deportation
Den übrigen drei Familienmitgliedern ist es nicht mehr gelungen, das Land zu verlassen. Vermutlich reichte das Geld nur für die Kosten einer einzigen Auswanderung. Belegt ist jedenfalls, dass sie sich am 1.6.1939 am Telgter Amt abgemeldet haben und nach Ahlem/Hannover in die Israelitische Gartenbauschule gezogen sind. Diese in den 1890er Jahren von einem jüdischen Bankier gegründete Schule sollte bedürftigen jüdischen Kindern Anleitungen zum Handwerk und zur Bodenkultur vermitteln. Sie war lange Zeit eine Insel der relativen Ruhe und Unbeschwertheit, wenn man Schilderungen von Absolventen dieser Einrichtung glauben darf. Zu hoffen ist, dass Karl-Heinz als Kind dort noch einige unbeschwerte Stunden erlebt hat. In den letzten Jahren wurde allerdings unter immer schwerer werdenden Bedingungen das Ziel verfolgt, die Schüler auf die Auswanderung vorzubereiten. Ende Oktober 1941 schloss die Gestapo das Internat. Von Dezember 1941 an wurden die Gebäude – jeweils vor den Deportationen – als Sammellager genutzt.
Die letzte und schrecklichste Etappe ihres Lebensweges kam mit dem 15. Dezember 1941 auf die Familie zu: Mit der ersten großen Deportation von Hannover aus wurde sie mit dem Zug nach Riga verschleppt, wo sie alle drei – Siegfried, Henriette und der kleine Pflegesohn – laut dem »Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945« verschollen sind. Entweder starben sie schon an den Folgen der grausamen Zustände im Ghetto, oder sie wurden wie so viele andere Opfer im Wald von Bikernieki, dem zentralen Erschießungsort von Riga, erschossen. Im September 1959 wurden sie auf Beschluss des Amtsgerichts Hannover für tot erklärt.
Telgte 2004
Auf eine Nachfrage beim Staatsarchiv Bremen erhielten die Teilnehmer eines Religionskurses des Telgter Gymnasiums die Nachricht, dass Karl-Heinz Steinhardts Schwestern Rita und Marianne den Holocaust überlebt hatten. Die Schwester Marianne zeigte sich tief erschüttert, da sie bislang geglaubt hatte, dass ihrem Bruder die Ausreise nach Amerika gelungen sei. Am 15. Dezember 2004 nahm sie mit ihrer Tochter an der feierlichen Verlegung des Erinnerungssteins für Karl-Heinz Steinhardt vor dem Eingang des Gymnasiums teil.
Sohn Hans
Dem Sohn Hans gelang es, eine neue Existenz im damaligen Palästina aufzubauen. Zunächst fand er Arbeit in einem Kibbuz, wurde dann Soldat in der britischen Armee und erlitt eine Verwundung bei den Kämpfen auf der Insel Kreta. Seine Frau Fritzi lernte er beim britischen Militär kennen, wo sie als Sekretärin arbeitete. Sie heirateten, und aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: Meir und Rafi. Hans erfuhr erst nach dem Krieg, dass seine Eltern nach Riga deportiert und dort umgekommen sind.
Später – nach Gründung des Staates Israel 1948 – gehörte Hans der israelischen Armee an, die er 1961 als hochrangiger Offizier verließ. Er engagierte sich im Sport und war Ehrensekretär beim nationalen Fußball-Schiedsrichterverband.
Viel zu früh verstarb er an Lungenkrebs – mit nur 43 Jahren im Jahre 1964. Seine Söhne waren erst 13 und 10 Jahre alt.
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