Ilse und ihre Schwester Margot waren die Töchter des Ehepaares Jenny und Hermann Auerbach, wohnhaft in der Bahnhofstraße (heute Atelier Akzente). Hermann und seine Brüder Max und Moritz führten das florierende Unternehmen. Sie waren wie ihre Vorfahren Metzger und Viehhändler. Hermann war ein angesehener, unbescholtener Bürger, der im 1. Weltkrieg gekämpft hatte und mehrfach ausgezeichnet worden war. Aber seit 1933 gingen die Geschäfte durch fortlaufend einschränkende und diskriminierende Erlasse und Verordnungen empfindlich zurück und die Hetze gegen Juden nahm immer mehr zu, so dass er für seine Töchter keine Zukunft mehr in Deutschland sah.
Vater Hermann gelang es, die nötigen Papiere und Bescheinigungen – und das waren nicht wenige – für die Auswanderung seiner beiden Töchter Margot und Ilse zu beschaffen. Am 26. August 1938 reiste Ilse in die USA und Schwester Margot nach England, wo sie ein Jahr blieb, um dann ebenfalls nach New York zu reisen. Über die Ereignisse in Telgte waren sie durch Briefe und Telegramme gut informiert.
Nach dem Schock der Pogromnacht und der zwangsweisen Schließung der Firma am 30. November 1938 beantragte Hermann auch die Ausreise für sich und seine Frau. Aber es war zu spät. Alle Bemühungen scheiterten. Die Eltern gerieten in das Räderwerk der Vernichtung und wurden im Warschauer Ghetto ermordet.
Die Anfangsjahre in Amerika waren geprägt von der Sorge um das Schicksal der Eltern und den Anstrengungen, sich mit ihrem Mann eine Existenz aufzubauen. Ihre Schwester Margot zog in ihre Nähe. Sie heiratete und hatte eine Tochter namens Vicky. Margot verstarb unerwartet an den Folgen einer Operation im Jahre 1958.
Über 50 Jahre später (1989) setzte Ilse Grunewald, geb. Auerbach, zum ersten Mal wieder ihren Fuß auf Telgter Boden. Wie war es dazu gekommen? Der Cousin Alfred Auerbach hatte ihr das Buch »Geschichte und Schicksal der Telgter Juden« zugeschickt, nachdem dieser bei einem seiner Besuche in Telgte zufällig erfahren hatte, dass Ilse im US-Bundesstaat Georgia wohnte. Er reiste zu ihr. Es war ein bewegendes Wiedersehen. Auch von ihrer Cousine Julie Groneck, Tochter von Max Auerbach, hatte sie jahrzehntelang nichts gehört. Und auch das Wiedersehen mit Julie konnte in Telgte schließlich stattfinden. So schloss sich nach vielen Irrwegen so mancher Beziehungskreis von Neuem, und verloren geglaubte Angehörige trafen sich nach langer Zeit wieder.
Sehr schmerzlich muss es für Ilse gewesen sein, durch die Straßen ihrer Kindheit und Jugend zu gehen. Welche Bilder und Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf? Sie war 23 Jahre, als sie Telgte verließ und kehrte als 74-Jährige mit ihrer Familie – Mann, Sohn, Schwiegertochter und drei Enkelkindern – in ihre Heimatstadt zurück.
Sie besuchte zuerst den jüdischen Friedhof, auf dem zwei Gräber von Familienangehörigen zu finden sind: das Grab ihrer Schwester Leni, gestorben 1932, und das ihres Onkels Moritz, gestorben 1936.
Im Rathaus sah sie die Ausstellung zur Geschichte der Juden in Telgte. »Ich habe hier viel Schlechtes erlebt«, meinte sie. »Ich kann nicht gut darüber sprechen, aber es wird allmählich leichter, als es in der Vergangenheit für mich war.« Sie lobte die Idee, eine Initiative zu gründen für die Errichtung eines Gedenksteines mit den Namen aller Begrabenen und Ermordeten auf dem Friedhof, und sie war dankbar dafür, dass »die furchtbaren Leiden der Juden an das Tageslicht gekommen sind.«