Im Rahmen ihrer Forschungen 1980 bekamen die beiden Schüler von Frau Groneck die Anschrift von Alfred Auerbach in Tel Aviv. Sie schrieben ihm einen langen Brief mit Fragen zu strittigen Aussagen zum Thema. Es kam keine Antwort. Später hat sich Alfred Auerbach dafür entschuldigt. Er habe den Brief wochenlang mit sich herumgetragen, ohne die Kraft zu finden, darauf zu antworten.
1985 hat die Stadt Telgte die Schülerarbeit als Buch herausgebracht. Wir schickten ein Exemplar mit guten Wünschen an Alfred Auerbach, der darauf reagierte und diesen Brief schrieb. Nach weiteren Nachforschungen erfolgte 1989 der Kontakt zu Ilse Auerbach und später zur Familie Mildenberg in Israel.
Alfreds Gedanken waren das einzige, was ihn noch mit Deutschland verband. Auf Umwegen und durch einen Verwandten in den USA erfuhr er erst ein Jahr später vom Tode seiner Mutter (1940). Immer lebte er in der Angst um seine Angehörigen. Erst nach dem Krieg wurde ihm nach und nach bekannt, dass alle ein Opfer des Holocaust geworden waren.
Alfred war Soldat in einer jüdischen Brigade unter englischem Kommando. Dort lernte er seine Frau Dora kennen. Sie heirateten im Januar 1943. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 wurde er wieder Soldat und kämpfte für seine neue Heimat. Erst ab 1950 konnte er sich eine bürgerliche Existenz aufbauen. Da er in Deutschland keinen Beruf erlernen durfte, nahm er verschiedene Stellen als Hilfsarbeiter an, arbeitete sich allmählich hoch, verbesserte seine Stellung durch Fortbildungskurse und hatte schließlich einen leitenden Posten bei der Stadtverwaltung.
Dora und Alfred bekamen drei Kinder: Jacob, Haim und Hanna. Im Laufe der Zeit kamen sieben Enkelkinder dazu. »Die Familie muss ja wieder aufgefüllt werden«, sagte er einmal. Aber im Gegensatz zu den Mildenbergs hat er seiner Frau und den Kindern immer wieder von seiner Heimatstadt Telgte erzählt.
Alfred Auerbach und seine Heimatstadt
Den ersten Kontakt mit Telgte hatte er 1962, also 23 Jahre nach seiner Auswanderung. Er kam aus den USA, wo er Verwandte besucht hatte, erhielt ein Visum zur Durchreise für zwei Tage und betrat zum ersten Mal seit seiner Auswanderung Telgter Boden. Auf dem Friedhof suchte er vergeblich nach den Gräbern seiner Familie. Sie waren alle verschwunden. Sein ehemaliger Freund Christian Homoet war im Krieg gefallen. In Telgte zu übernachten, fiel ihm zu schwer. Das Grab seiner Mutter suchte er auf dem völlig verwilderten jüdischen Friedhof in Münster, fand es aber nicht.
1973 und 1978 hat er ebenfalls Telgte einen Besuch abgestattet. Sein erster Gang führte ihn und seine Frau zum Friedhof, aber übernachtet haben sie in Münster. Es wird deutlich, wie schmerzhaft die Wiederbegegnung mit der Stadt seiner Kindheit gewesen sein muss. Mit keinem Telgter hat er zu dieser Zeit Kontakt aufgenommen.
1980 bekam er einen langen Brief von den Realschülern Rainer Westhoff und Gregor Rüter, die zusammen mit ihrem Mentor Ludwig Rüter eine Arbeit zur Geschichte und zum Schicksal der Telgter Juden schrieben. Seine Adresse hatten sie von Frau Groneck bekommen. Wochenlang, so berichtete er später, habe er den Brief mit sich herumgetragen, aber nicht den Mut gehabt zu antworten. Zu schmerzlich waren die Erinnerungen.
1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, wurde die Arbeit der Schüler von der Stadt Telgte gedruckt. Die Schüler schickten ein Exemplar an Alfred Auerbach. Danach kam es zu ersten schriftlichen Kontakten mit Ludwig Rüter.
1986 besuchte die Telgter Ratsfrau Anne Westhues auf ihrer Israel-Reise Alfred Auerbach und stellte damit den ersten offiziellen Kontakt zu seiner Heimatstadt wieder her. Der Familie Westhues war er in besonderer Weise zugetan, da Josef Westhues Alfreds Vater in der Nacht des Synagogenbrandes aufgenommen und ihn einige Tage versteckt hatte. Und so fiel es ihm nicht schwer, eine Einladung der Telgter Familie anzunehmen. Es kam noch zu weiteren Begegnungen in Israel: Alfred Auerbach begleitete zwei Reisegruppen aus dem Kreis Warendorf auf ihrer Fahrt durch Israel in den Jahren 1986 und 1987. Anne Westhues und ihre Tochter waren dabei.
Alfred Auerbach kam schließlich 1988 auf Einladung des Telgter Bürgermeisters Reinold Hotte in seine Heimatstadt, wo er als Ehrengast an den Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum (750 Jahre) teilnahm. Er kam mit seiner Frau und einem Enkel und brachte ein besonderes Geschenk mit: Eine Übersetzung des Buches »Geschichte und Schicksal der Telgter Juden 1933–45« ins Hebräische, die er selber angefertigt hatte.
Seine wachsende Verbundenheit mit Telgte
Im gleichen Jahr kam Alfred Auerbach ein zweites Mal nach Telgte, diesmal mit seinem Sohn Jacob, seiner Tochter Hanna und seinem Schwiegersohn Avi. Er nahm dort am 10. November an der Gedenkstunde zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht und an der Ausstellungseröffnung »Geschichte und Schicksal der Telgter Juden« teil. Seinen Kindern konnte er anhand der Schautafeln vieles aus seinen Kinder- und Jugendtagen erläutern. Seit 1990 kam er nun fast jährlich nach Telgte und fand immer gastfreundliche Aufnahme im Haus der Familie Westhues.
Während seiner Besuche fand er auch immer wieder Zeit, in die Schulen zu gehen und dort Schülern aus seinem Leben zu erzählen und auf ihre Fragen einzugehen. Es existiert eine Aufnahme von diesen Gesprächen, die später von einem Tonstudio aufgearbeitet wurde und im Jahre 2008 – zwei Jahre nach seinem Tode – die Grundlage für eine Feierstunde zum Gedenken an Alfred Auerbach bildete.
Im Jahre 1994 wurde schließlich das Grab seiner Mutter auf dem jüdischen Friedhof in Münster gefunden und freigelegt. Ein zutiefst bewegender Moment für Alfred Auerbach.
Im Jahr 1997 besuchte er im heutigen Polen die Gedenkstätte Dörnhau, wo die ermordeten Lagerinsassen in Massengräbern begraben wurden. Zu ihnen gehörte auch sein Bruder Erich. Auch hier konnte er endlich das Kaddisch sprechen.
Ehrungen
Im Juni 1998 erhielt er aus den Händen des Bürgermeisters Klaus Beck eine Bronzemedaille mit der Telge zur Feier seines 75. Geburtstages.
Zwei Jahre später, am 21. Juni 2000, überreichte Bürgermeister Ulrich Roeingh in einer Feierstunde Alfred Auerbach die Telgter Stadtplakette mit den Worten: »Gegen Hass haben Sie Versöhnung gesetzt, gegen Gewalt die Menschlichkeit, gegen Vergessen und Verdrängen Aufarbeitung und Erinnerung. Die Stadt Telgte ist Ihnen für Ihre Versöhnungsbereitschaft, für die Überwindung von Hass und Leid zu tiefstem Dank verpflichtet.«
Im Mai 2004 wurden 5 Stolpersteine für die Opfer der Familie Auerbach in der Steinstraße verlegt: Jakob, Fanny, Klara, Erich und Kurt. Alfred konnte aufgrund seiner Erkrankung nicht teilnehmen. Er verstarb nach langer Krankheit am 19. Mai 2006. Viele Beileidsbekundungen von Telgte gingen nach Tel Aviv.
Am 20. 4. 2008 wäre er 85 Jahre alt geworden. Die Stadt Telgte und der Verein »Erinnerung und Mahnung» nahmen dieses Datum zum Anlass, seiner zu gedenken. Zu dieser Veranstaltung waren seine Kinder Jacob Or-Bach aus den USA und Hanna Mazor mit ihrem Mann Avi und der Tochter Adi sowie Haim Auerbach mit seiner Lebensgefährtin Riki Cohen und Sohn Eri aus Israel angereist. Es war eine feierliche und zutiefst berührende Gedenkstunde im Sitzungssaal des Rathauses: Ausschnitte von Alfreds Gesprächen mit Realschülern wurden zu Gehör gebracht, weitere Erinnerungen Alfreds an seine Jugend und den Neuanfang in Palästina wurden in einer szenischen Lesung nachgesprochen. Ein Exemplar dieser CD in 24-karätigem Gold, das seine Stimme für Jahrhunderte konserviert, überreichte Klaus Beck als Vorsitzender des Vereins »Erinnerung und Mahnung« den Kindern Auerbachs. Zum Abschluss dankte der älteste Sohn Jacob dem Bürgermeister sowie allen, die diesen Tag mitgestaltet hatten. Sein Vater habe – so schloss er seine
Rede – zu Lebzeiten seinen Frieden gefunden mit Telgte und seinen Bürgern.