Frau Westhues berichtet von ihrem Besuch bei Alfred Auerbach.
Im Dezember 1985 besuchten uns Aron Eshed und seine Tochter, die wir bei einer Reise nach Israel im Jahr zuvor kennen gelernt hatten, Aron sah bei uns das soeben erschienene Buch »Geschichte und Schicksal der Telgter Juden 1933 – 1945«, das Herr Rüter mit Schülern seiner Realschulklasse erstellt hatte. So kamen wir auf Alfred Auerbach zu sprechen. Aron versprach, nach seiner Rückkehr Grüße aus Telgte an den auch ihm ansonsten unbekannten Alfred Auerbach auszurichten.
Er machte sein Versprechen wahr und rief ihn an. Alfred Auerbach fragte ihn, bei wem er denn in Telgte gewesen sei. Als Alfred Auerbach den Namen Westhues hörte, erzählte er ihm, dass die Familie JosefWesthues seinen Vater in der Nacht des Synagogenbrandes in Telgte aufgenommen hätte. Er äußerte den Wunsch, Kontakt zur Familie Westhues aufzunehmen.
In den Osterferien 1986 reiste ich mit meiner Tochter auf Einladung unserer Freunde nach Israel, um Karfreitag und das Osterfest in Jerusalem zu verbringen. Telefonisch wurde ein Kontakt zu Alfred Auerbach hergestellt. Er lud uns zum Kaffee in sein Haus in Tel Aviv ein. In Kenntnis der in dem Buch über das Schicksal der Telgter Juden geschilderten Ereignisse fühlte ich mich auf dem Weg in Alfred Auerbachs Wohnung doch psychisch sehr belastet. Ich bat Aron Eshed sogar während eines Verkehrsstaus, der uns eine Stunde Verspätung kostete, umzukehren. Aron entgegnete: »Da musst Du jetzt durch, das ist Eure Geschichte«.
Als wir schließlich vor dem Haus vorfuhren, lief ein grauhaariger Herr, gekleidet mit einem Jackett und einem Schlips – in Israel sehr ungewöhnliche Kleidungsstücke – vor dem Haus hin und her. Aaron Eshed sagte: »Das muss Alfred Auerbach sein. Der Herr sieht aus wie ein deutscher Jude, er ist so ordentlich gekleidet«. Aron Eshed rief einige hebräische Worte und sofort lief Alfred Auerbach auf unser Auto zu.
Er begrüsste mich sehr herzlich auf deutsch, und während er uns ins Haus führte, sagte er eingedenk der Aufnahme seines Vaters bei der Familie Josef Westhues: »Wie schön, dass ich ein Mitglied der Familie Westhues in meinem Haus begrüssen kann«. Er stellte uns seine Frau Dora vor und zeigte uns sein Haus, eine Art Reihenhaus, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer. Küche, Bad, einem Kinderzimmer für die 3 Kinder und einem Wintergarten. Alles machte einen einfachen und bescheidenen Eindruck. Wir bekamen Kaffee. Kuchen und Obst angeboten.
Er begann von sich aus. seine Lebensgeschichte und die seiner Familie zu erzählen. Während des Gesprächs versagte ihm häufig die Stimme. Er weinte sogar, und ich weinte mit. Er sagte: »46 Jahre habe ich darauf gewartet, dass mir ein Telgter bei der Schilderung meiner Lebensgeschichte zuhört«. Er berichtete über die Drangsalierungen in seiner Schulzeit ab 1933, über den Abschied von Eltern und Geschwistern, die er nie wiedergesehen hat, im Jahre 1939, über seine Ausreise nach Palästina, den Neuanfang dort, seine Lebensabschnitte als britischer Soldat im 2. Weltkrieg und jüdischer Soldat bei den Kämpfen um die Gründung des Staates Israel, über seine beruflichen Stationen von der Arbeit im Kibbuz über Tätigkeiten als Hausmeister, Taxifahrer, Lagerist, Hauptlagerverwalter bis zum Leiter der Kontrollabteilung für die städtischen Angestellten in Tel Aviv. Er erzählte auch vom Aufbau seiner schließlich 5‑köpfigen Familie (2 Jungen, I Mädchen).
Durch alle Erzählungen zog sich ein Hauch von Wehmut, Trauer und Heimweh. Wir blieben bis nachts um 3 Uhr. Während der restlichen Nacht konnte ich nicht schlafen, so betroffen war ich von seinen Erzählungen, so beeindruckt aber auch von seiner Persönlichkeit. Ich hatte in Alfred Auerbach einen höchst sensiblen, gütigen, wohlwollenden, von Herzen versöhnungsbereiten Menschen kennen gelernt.
Wir verabredeten uns für den übernächsten Tag erneut, wo er dann auch meine Tochter kennen lernte; umgekehrt lernten wir seinen Sohn Chaim und seine Tochter Hannah, beide mit Familie, kennen.
Am letzten Tag unseres Israel-Aufenthaltes äußerte Alfred Auerbach den Wunsch, uns zum Flughafen zu begleiten. Vom Abschied dort gibt es ein Foto, das einzige, das von diesem ersten Treffen existiert. Alfred Auerbach ist damals 63 Jahre alt.
Ich lud ihn und seine Frau ein, unsere Familie in Telgte zu besuchen. Er nahm meine Einladung nach Telgte an. Zunächst aber kam es zu 2 weiteren Begegnungen in Israel, als Alfred Auerbach 1986 und 1987 zwei Reisegruppen aus dem Kreis Warendorf auf ihrer Rundfahrt durch Israel begleitete. Meine Tochter und ich waren auch dabei.
Nach Telgte kam er schließlich 1988 auf Einladung der Stadt Telgte, wo er als Ehrengast an den Feierlichkeiten zum Stadt Jubiläum teilnahm.